In unserer Interview-Serie „The Moment“ stellen wir regelmäßig Menschen vor, die Veränderungen in ihrem Leben wollten, sich ihnen gezwungenermaßen stellen mussten oder sich dafür einsetzen, selbst „change“ anzustoßen. Einige faszinierende Persönlichkeiten aus ganz unterschiedlichen Bereichen stellen wir in der ersten Ausgabe von Enough ausführlich oder in aller Kürze vor. Von bekannten Gesichtern zu stillen Helden mit außerordentlicher Ehrlichkeit und großem Mut.
Doch auch zwischendurch wollen wir hier auf unserer Website besonderen Persönlichkeiten ein Forum bieten, uns von Zäsuren in ihrem Leben zu erzählen. Schließlich lernen Menschen am liebsten von anderen Menschen. Lassen Sie sich inspirieren, einfach besser (zu) leben.
Die Journalistin Louise Brown kannten wir bisher nur beruflich, und zwar als exzellente Autorin mit dem Ohr am (nicht nur) Londoner Zeitgeist und einer Nase für besondere Geschichten. Als sie in einer E-Mail beiläufig von einer neuen Leidenschaft sprach, wollten wir mehr wissen. Trauerrednerin? Tell us more, Louise!
Liebe Louise, dein Leben im Zeitraffer, bitte.
Okay. Geboren und aufgewachsen in London, mit 12 Umzug nach Ostholstein. Politikstudium in Kiel und Berlin. Dann Arbeit als freie Journalistin in Berlin, später London. Ein Roman, erschienen bei Ullstein. Und seit acht Jahren lebe ich in Hamburg mit Freund und Sohn. Seit 2015 arbeite ich zudem als Trauerrednerin. Ach ja, und ich bin nicht das erste Retortenbaby.
Was war deinen Eltern wichtig für dich?
Disziplin. Kreativität. Liebe.
Was war dir selbst früher wichtig?
Meinen Namen in der Autorenzeile von Zeitungsartikeln und Magazingeschichten zu lesen.
Wie siehst du das heute?
Heute brauche ich diese Art von Selbstbestätigung nicht mehr.
Wie definierst du jetzt Erfolg?
Zufriedenheit. Wenn mein Kind lacht. Wenn ich die Rechnungen bezahlen kann. Und wenn ich mit den Fähigkeiten, die ich mir über die Jahre angeeignet habe, nun etwas so Sinnvolles tun kann wie Trauerreden zu verfassen und zu halten.
Wie hast du früher darüber gedacht?
Viele Jahre bedeutete Erfolg für mich: leisten. In der Schule nur Bestnoten zu schreiben, eine hervorragende Diplomarbeit zu verfassen, für die angesehensten Medien zu arbeiten. Ich glaube, ich war da geprägt durch das Vorbild meiner Eltern. Die haben sich nach dem Krieg aus einfachsten Verhältnissen zielstrebig nach oben gearbeitet.
Was war der bisher größte Wendepunkt in deinem Leben?
Zum einen: Der Umzug von London nach Deutschland als 12-Jährige. Alles, was mir Sicherheit und Geborgenheit gab, war innerhalb kurzer Zeit weg. Dieses Gefühl, wurzellos zu sein habe ich bis heute. Zum anderen: der Tod meiner Eltern 2011, innerhalb von drei Monaten. Dazu die Monate davor und danach, als sie sehr krank waren bzw. ihr Haus aufgelöst werden musste.
Der Moment, an ich dem wusste, etwas muss anders werden, kam etwa ein Jahr danach. Ich funktionierte, verspürte aber keine Lebenslust mehr. Ich war seelisch erschöpft, fühlte mich verloren. Ich hatte die Trauer einfach total unterschätzt.
Durchgestanden habe ich diese Zeit mit der Hilfe eines Menschen, der sich professionell mit Trauer befasst. Und mit viel Arbeit an mir selbst. Der Verlust eines geliebten Menschen wirft dich auf dich selbst zurück, man muss lernen, sich neu zu positionieren. Das braucht Geduld und Zuversicht. Und Zeit. Manchmal glaube ich, durch diese Erfahrungen erst richtig erwachsen geworden zu sein.
Worauf ich heute vertraue ist deshalb die Erkenntnis, das viele Dinge wirklich Zeit brauchen!
Wie sah früher dein Alltag aus?
Arbeiten, Sport, arbeiten, Sport, arbeiten, usw. Ich war als freiberufliche Journalistin viel unterwegs, oft im Ausland. Abende und Wochenenden waren oft mit Recherchen für nächste Story gefüllt. Immer den Themen des Tages voraus sein, nie krank werden, dazu die wachsende Unsicherheit in der aktuellen Medienlandschaft. Hochspannend aber sehr stressig.
Wie läuft heute ein typischer Tag in deinem Leben ab?
Arbeiten, Legospielen, mit meiner Familie Tee trinken. Als Traurednerin fahre ich heute in den Hamburger Westen zu den Angehörigen eines Toten. Ich tauche für zwei Stunden in das Leben der Familie ein. Dass sie sich mir öffnen, empfinde ich als großes Privileg. Ich sehe mit eigenen Augen, dass es tröstlich sein kann, vor dem Hintergrund des Todes, über das Leben des Verstorbenen zu sprechen. Ich höre sehr genau zu und versuche die richtigen Fragen zu stellen. Ich hoffe, dass ich ihnen mit meiner Anwesenheit und meine durch eigene Verluste hoffentlich gewachsene Sensibilität, etwas Kraft geben und Trost spenden kann.
Dieses Gespräch ist mindestens ebenso wichtig wie die Rede. Zuhause schreibe ich den Text dafür auf, suche passende Lyrikpassagen und Literaturzitate – und verflechte alles so, das Text, Musik und Literatur zusammenpassen. Ein paar Tage später halte ich die Rede und begleite auch oft die Beisetzung. Auch das sind sehr besondere Momente. Wenn zehn oder 100 Menschen aus Respekt, Freundschaft oder Liebe zum Verstorbenen in einem Raum kommen: da schwingt eine besondere Energie im Raum, eine greifbare Menschlichkeit.
Deine drei besten Eigenschaften?
Empathie. Wärme. Disziplin.
Deine drei größten Herausforderungen mit dir?
Ich mache mir um (zu) vieles Sorgen. Ich kann sehr kritisch mit mir sein. Manchmal bin ich auch zu diszipliniert.
Was bringt dir Freude?
Mein Sohn. Wenn er entspannt und zufrieden ist. Gespräche und bewusst verbrachte Zeit mit Familie und Freunden. Aber auch Gespräche mit unbekannten Menschen, denn jeder von uns hat eine große Geschichte. Schwimmen. Lesen. Der Alltag, wenn alles klappt. Nach den schweren Jahren schätze ich vermeintlich banale Dinge viel mehr.
Was macht dir Angst/Sorgen?
Die Welt, in der mein Kind aufwächst. Kriege, Terror, soziale Medien. Und dann Krankheit und finanzielle Unsicherheit.
Drei Lieblingsbücher.
Hilfe, nur drei..!? Mal sehen:
„Oliver Twist“ von Charles Dickens. Das habe ich zum ersten Mal mit zehn Jahren gelesen und Charles Dickens hat definitiv mein Leben verändert. Er schrieb über die sozialen Missstände der damaligen Zeit; gleichzeitig springen seine Charaktere geradezu von der Seite. So wollte ich schreiben. Und deshalb wollte ich schreiben.
„Jane Eyre“ von Charlotte Brontë. Da steckt so viel drin, die wichtigen Fragen nach Liebe und Tod, die wir uns bis heute stellen. Dann natürlich Janes Mut, ihre Ehrlichkeit und innere Unruhe. Ihr Streben nach Größerem und die Bedeutung von kindness’. Die vielen Geheimnisse, die wir alle voreinander haben. All das erzählt mit Brontës scharfem Humor und ihrer genauen Beobachtungsgabe.
Unbedingt auflisten muss ich auch die Kurzgeschichten von Ernest Hemingway. Das Essentielle daran und was alles, was zwischen den Zeilen steht, sind bis heute unerreicht.
Und: die Lyrik von Kate Tempest. In wenigen Worten schaffte sie es, die Empfindungen und Unsicherheiten unserer Zeit festzunageln, Zeile um Zeile.
Oh, das waren jetzt mehr als drei, aber dafür habe ich keine Lieblingsfilme.
Eine Serie zum Wochenende-Durchgucken.
„Friday Night Dinner“ und „Shameless“. Zwei Serien von Channel 4, die jeweils komplett unterschiedliche Facetten des englischen Alltags abbilden, wunderbar unterhaltsam, bissig, treffend.
Drei Menschen, die in deinen Augen Vorbilder sind.
Ich habe in meiner Rolle als Trauerrednerin häufiger zu tun mit Familien von Verstorbenen, die den Zweiten Weltkrieg oder die Flucht aus Ostpreußen erlebt haben. Viele hatten einen schweren Start ins Leben und haben als Kinder den Verlust der Heimat, von Angehörigen und bitterste Armut verkraften müssen. Wie diese Menschen es geschafft haben, ein neues Leben aufzubauen, später für ihre eigenen Familien zu sorgen und trotz allem offene und liebevolle Menschen zu bleiben, das finde ich beachtlich!
Wenn du ein Problem der Welt lösen könntest, welches würdest du wählen?
Aktuell den Krieg in Syrien. Ich finde es unerträglich, dass Kinder im Bombenhagel aufwachsen müssen. Dass Millionen von Menschen ihr Leben auf Spiel setzen müssen, um dem Grauen dort zu entkommen.
Das größte Kompliment, das du je bekommen hast?
Wir schauten einen Film über behinderte Sportler. Mein Freund sagte: „Ich würde dich auch mit einem Bein lieben“.
Wie lautet dein persönliches Mantra?
Fear is temporary but pain is forever.