Marianne Williamson: „Wir leben in düsteren Zeiten“

[Hinweis: Dieses Interview erschien in der ersten Ausgabe von ENOUGH im Herbst 2015; hier findet ihr weitere Informationen zu Marianne Williamson]

Die Frage, wie wir uns zum Wohl der Gesellschaft einbringen können, ist heute dringender als früher, denn wir leben in düsteren Zeiten

Marianne Williamson

Seit die spirituelle Lehrerin und Autorin Marianne Williamson Ende der 1980er in Los Angeles damit begann, sich für eine bessere, bewusstere Gesellschaft zu engagieren, fügen Mainstream-Medien ihrem Namen gern alberne bis kritische Attribute hinzu. Sie sei die „Mother Theresa of the Nineties“, oder ein „New Age Guru“. Laut „Newsweek“ gehört sie immerhin zu den 50 einflussreichsten Mitgliedern der Baby-Boom-Generation.

Lob oder Spott – die 62-jährige Wahl-Kalifornierin, die ein Essen- auf-Rädern-Programm für AIDS-Kranke gründete, als niemand die Betroffenen auch nur berühren mochte, macht sich weiter unermüdlich und wortreich für ein Zusammenleben stark, das auf Liebe, (Selbst-)Vergebung und Frieden basiert. Das tut sie in Büchern, Seminaren, im US-Fernsehen und kürzlich auch als politische Kandidatin für den Kongress.

Williamson unterlag, stieß jedoch nicht nur bei ihren Fans aus Hollywood ein neues Nachdenken über die unheilvolle Symbiose von Geld und Macht in Washington an. „Die Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern“, sagte die gebürtige Texanerin im Wahlkampf, „schrecken mich weit weniger als die große Summe ihrer Übereinstimmungen.“

Marianne Williamson, Sie haben 2014 für das US-Repräsentantenhaus kandidiert und mit Ihrer politischen Kampagne nicht nur im Wahlbezirk 33 von Los Angeles viel Staub aufgewirbelt. Was läuft schief im heutigen Amerika?

Ganz einfach: Während sich unsere Regierungsorgane früher einzig dem Gemeinwohl unserer Gesellschaft und demokratischen Werten verpflichtet fühlten, steht heute der kurzfristige wirtschaftliche Gewinn für amerikanische Großkonzerne im Fokus. Politiker beugen sich dem Willen multinationaler Konzerne und werden zu Handlangern des Korporatismus statt die Menschen zu verteidigen, die sie ins Amt gewählt haben.

Eine Diagnose, die leider auch auf andere Nationen zutrifft. Wann haben Sie sich für die Politik entschieden?

Ich glaube, es war ein schleichender Prozess, an dessen Ende ich überzeugt war, dass ich einer Sache dienen und etwas Gutes bewirken könnte. Wir alle suchen nach sinnvollen Beziehungen mit unseren Mitbürgern, mit der Öffentlichkeit. Und jemand wie ich, der in seinem Beruf Veränderungsprozesse anstoßen und begleiten möchte, bringt dafür nicht die schlechtesten Voraussetzungen mit, dachte ich mir.

Ich habe oft erlebt, dass, was für Einzelpersonen an einem Wendepunkt gilt, sich auch auf das große Ganze anwenden lässt. Wenn also viele Individuen ehrlich zu sich selbst sind und in einen ehrlichen Dialog treten, dann redet schließlich eine ganze Nation über die wirklich wichtigen Dinge.

Mit dieser Überzeugung startete ich ins Rennen um einen Sitz im Kongress. Das beachtliche Publikum, das ich mir über die vielen Jahre aufgebaut habe, bildete die Basis-Wählerschaft, auf die ich vollends vertrauen konnte und die mich bis zuletzt unfassbar großzügig unterstützt hat.

Mein Problem war, dass ich für einen Bezirk kandidierte, meine Leser und Fans jedoch übers ganze Land und die Welt verteilt sind. Im Wahlkampf selbst musste ich zudem erkennen, dass ich die äußeren Zwänge im Wahlkampf und die geforderten Fähigkeiten unterschätzt hatte. Ich war Wahlkämpferin für andere gewesen, hatte selbst jedoch nie die Kandidatenperspektive erlebt. Mir ist es einfach nicht gelungen, den Enthusiasmus und das leidenschaftliche Feuer meiner Mitstreiter in einen politischen Sieg umzumünzen.

Würden Sie die erneute Kandidatur für ein politisches Amt ausschließen?

Im Moment ja. Vielleicht ändert sich das in zwei oder drei Jahren, aber jetzt muss ich immer noch die Brutalität und Euphorie dieser Erfahrung verarbeiten. Ein baldiges erneutes Rennen kann ich auch meinem Magen nicht zumuten.

Sie haben viel Erfahrung mit Grassroot-Bewegungen und wohltätigen Projekten, aktuell Sister Giant. Wie motivieren Sie sich und reißen andere mit?

Im Zentrum meines eigenen Lebens steht bis heute die spirituelle Suche. Ich bin eine religiöse Frau, ich studiere den „Course of Miracles“ und ich stelle in Gebeten oft die Frage, was ich tun und wofür ich mich engagieren soll. Ich glaube, es gibt diese innere Stimme, die eine Richtung vorschlägt, und uns dorthin führt, wo wir von größtem Nutzen sind. Manche bringt das dazu, Wissenschaftler zu werden, andere werden Künstler oder Lehrer, und wieder andere Geschäftsleute. Eigentlich aber steuert uns der innere Kompass zu einem gemeinsamen Ziel: zu mehr Liebe und Mitgefühl.

Als Rednerin habe ich die Freude und das Privileg, genau das zu vermitteln. Und der Wunsch, zu dienen, ist auch mein täglicher Antrieb. Die Frage, wie wir uns zum Wohl der Gesellschaft einbringen können, ist heute weitaus dringender als früher, denn in vielerlei Hinsicht leben wir in düsteren Zeiten.

In den USA äußert sich das Experten zufolge die dramatisch wachsende finanzielle Ungleichheit auch in einer Verschärfung der Beziehung zwischen Schwarz und Weiß. Wie beurteilen Sie dieses fatale Zusammenspiel?

Wir haben mit unserer Sozial- und Wirtschaftspolitik, durch Banken, Handel und Steuern jahrzehntelang große Teile aller Ressourcen in die Hände einer sehr kleinen Gruppe gegeben. Früher hat die Regierung solche radikalen Entwicklungen korrigiert oder abgefedert. Heute fördern Politiker die Macht der Wirtschaftsakteure aktiv und willentlich mit.

Lewis Brandeis, ein ehemaliger Richter am US Supreme Court, sagte einmal: Wenn sich Reichtum so stark konzentriert, gibt es keine Demokratie mehr. Zur Frage des Miteinanders von schwarzen und weißen Amerikanern – ich würde dort definitiv noch die Mitbürger aus Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern hinzunehmen.

Es ist extrem wichtig, nicht gleich von neuen Rassenkriegen zu sprechen, wie es manche Radiomoderatoren und andere, die gern Öl ins Feuer gießen, bereits getan haben. Wir sind definitiv nicht an einem solchen Punkt unserer Geschichte, nicht einmal in der Nähe. Aber wir spüren zweifellos, dass uns Aspekte einer schwierigen Vergangenheit einholen, die doch nicht so überwunden und verarbeitet sind, wie wir es uns bisher eingeredet haben.

Wie könnte es auch anders sein, wenn die Beziehung zwischen zwei Bevölkerungsgruppen mit Sklaverei beginnt! Deren politische Abschaffung nach dem Bürgerkrieg war wie eine äußerliche Salbe, die den unterschwelligen Rassismus im Land keineswegs heilen konnte. Ganz im Gegenteil: Er flammte in der Ära weißer Überlegenheit im amerikanischen Süden erneut auf und gipfelte in der institutionalisierter Rassentrennung, einer zutiefst grausamen Vorgehensweise.

Ja, die Bürgerrechtsbewegung hat diese Praktiken beseitigen können und vieles mehr, aber selbst heute steckt in vielen unserer sozial- und wirtschaftspolitischen Gesetze eine mehr oder minder versteckte Diskriminierung der schwarzen Amerikaner. Ich selbst glaube fest daran, dass wir ihnen mehr geben müssen als eine symbolische Entschuldigung für die in der Sklaverei erlittenen Qualen. Ich denke an eine Art von Reparationszahlungen, wie sie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebürdet wurden.

Dadurch und durch eine eine konsequente schulische politische Bildung, so ist zumindest meine Sicht der Dinge, hat Deutschland verhindert, dass sich die Geschichte wiederholt. Dabei endete die Nazi-Zeit erst vor 70 Jahren, die Sklaverei wurde bereits 1865 abgeschafft. Doch weiterhin pulsiert Dunkelheit durch die Venen von Generationen und neuen Generationen, weil wir uns diesem Problem nie konsequent gestellt haben.

Mit Reparationszahlungen meine ich aber nicht „50 Dollar auf die Hand“-Aktionismus, sondern groß angelegte Programme, die schulische Chancen und wirtschaftliche Perspektiven eröffnen und nachhaltig sichern sollen. Gerade weil wir die höchste Zahl von Inhaftierten weltweit haben und schwarze Amerikaner dreimal so häufig im Gefängnis landen wie weiße, muss die Plitik endlich handeln! Vielleicht liegt in diesen, in den für manche Leute sicher provokanten Ansichten meine Rolle jenseits der politischen Bühne: diese Gespräche anzustoßen.

Wer sich auf ein Gespräch mit Ihnen vorbereitet, der landet schnell bei Artikeln, die Ihnen nach wenigen Sätzen Spitznamen geben: Hohepriesterin der Pop-Religion, Kriegerin des Herzens. Es fallen aber auch Begriffe wie Eitelkeit, Wutausbrüche und Binsenweisheit. Wie gehen Sie mit Kritik um?

Wer sich in die Öffentlichkeit begibt und dort seine Meinung kundtut, der muss mit Gegenwind rechnen. Ganz zu Beginn meiner Karriere schon wurde ich als „New Age Guru“ bezeichnet. Und es ist schwer, so eine Karikatur von sich selbst zu bekämpfen. Wenn der Inhalt deines Schaffens Liebe ist, dann wirst du natürlich mit dem Gegenteil attackiert.

Ich sei überehrgeizig, grausam und gemein, heißt es dann. Und ein schrecklicher Boss. Oft kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern, die Menschen, die diese Lügen verbreiten, je getroffen zu haben. Manchmal musste ich sie vor Jahren kündigen. Auf der persönlichen Ebene ist das teilweise schmerzhaft. Über einen Mann würde übrigens niemand in solchen Kategorien sprechen, da bin ich mir sicher.

Wenn dann noch ein Journalist solche Vorwürfe oder Gerüchte nicht hinterfragt, ist das schon schwer auszuhalten. Mit absurden Anklagen wird man vor das Mediengericht gezerrt, vor dem es keinen geordneten Prozess der Rechtsprechung gibt, weder Zeugen noch Kreuzverhöre. Ich muss darauf vertrauen, dass solche Schmutzkampagnen an den Menschen, die mich wirklich kennen, die mich erlebt haben und meine Mission verstehen, einfach abprallen. So wie ich, wenn mir jemand etwas Negatives über eine gemeinsame Bekannte erzählt, mit der ich ganz ander Erfahrungen mache. Daran allein halte ich mich und stimme nicht blind zu.

Wir praktizieren Multitasking, bewegen uns auf vielen Plattformen gleichzeitig, stopfen immer mehr Aktivität in die verfügbare Zeit und können Ruhe kaum ertragen. Wie beurteilen Sie unsere technologisch angetriebene Selbstbezogenheit, die Selfie-Nation?

Ich denke, wir alle werden von der Moderne mindestens belagert, wenn nicht angegriffen. Diese billigen Reize und geistlosen Häppchen und der ganze Klatsch und Tratsch, der an unsere niedersten Instinkte appelliert, an unsere Bereitwilligkeit, uns abzulenken, sind wie ein Gift. Wir können jede Situation in unserem Leben oberflächlich angehen – oder uns tiefgründiger damit beschäftigen. Dafür aber brauchen wir Weisheit und Erkenntnis viel dringender als Technologie. Es hilft uns wenig, uns über die Unzulänglichkeiten und die mangelnde Weitsicht unserer Politiker aufzuregen, wenn wir selbst – jeder für sich – diese Weisheit vermissen lassen.

Ich glaube, dass immer mehr Menschen begreifen, dass wir es uns schuldig sind, klar zu denken. Wer morgens duscht aber nicht betet, meditiert oder in einer anderen spirituellen Praxis nach Inspiration sucht, der hat sich äußerlich gereinigt, nicht aber seinen Geist beruhigt.

Mit 18 haben Sie Gott einen Trennungsbrief geschrieben. Warum?

Ich hatte diese ganzen Bücher gelesen über den Existenzialismus, die Theologie des Todes von Gott und Bücher über den Holocaust. Und wie viele Menschen fragte ich mich, wie kann es einen Gott geben, wenn er so viel Unheil zulässt? Natürlich habe ich später begriffen, das Gott nicht die Quelle des Übels ist, sondern dass wir das selbst sind. Ebenso wie Gott durch uns seine Finger mit im Spiel hat, wenn wir schlimme Situationen meistern. Aber damals, als junge Frau, hatte ich das Gefühl, ich müsste mich von Gott trennen. Dass unsere Beziehung keine Zukunft hätte, und ich ihm das in einem Brief mitteilen müsste.

Mittlerweile haben wir erfolgreiche Beziehungsarbeit geleistet und sind uns wieder sehr nah. Aber ich habe gelernt, dass wir alle den Samen für Dunkelheit in uns tragen – ebenso wie die Fähigkeit, hellstes Licht auszustrahlen. Und manchmal müssen wir uns unserer inneren Düsternis bewusst werden, um unser Licht heller strahlen zu lassen.