Es war der 4. Oktober 2002. Ich hatte die Nacht bei meinem Freund Dean verbracht. Wir kannten uns seit Jahren, waren aber erst einige Monate zusammen – und unsere Beziehung irritierte mich. Deans Wesen entsprach überhaupt nicht der Liste von Charaktereigenschaften, die ich mir für meinen perfekten Partner wünschte. Trotzdem brachte mich irgendeine geheimnisvolle Anziehungskraft wieder und wieder zu ihm zurück. Ich erinnere mich genau an diesen Morgen in seinem Schlafzimmer. Die braunen Tapeten, die olivgrünen Vorhänge. Dean mag diese Erd- oder Dreckfarben. Wenige Stunden zuvor hatte ich mit ihm erlebt, was ich nur als den besten Orgasmus meines Lebens bezeichnen kann. Unser Sex hatte alles Bisherige in den Schatten gestellt. Wow. Trotzdem wollte ich unbedingt aufstehen, ich fühlte mich total ruhelos. Wir wollten in Malibu wandern gehen. Ich trieb Dean an und wir warfen rasch Klamotten über, stiegen in unsere Stiefel und griffen als Frühstück zu ein paar Bananen. Ab ins Auto, die Küste hoch.
Die ganze Zeit quälte mich die Unsicherheit, ob Dean der Mann sei, mit dem ich mein Leben teilen wolle. Ich hatte keine Ahnung. Gleichzeitig war mir klar, dass ich es schleunigst herausfinden und mir dann permanent sicher sein musste.
Wir kamen am Charmlee Park an, fanden den Wanderweg und liefen los. Die hitzige Diskussion in meinem Kopf ging weiter. Auf einer Lichtung el mir sofort diese perfekte Eiche auf. Seit ich klein war, hatte ich eigentlich nie aufgehört, auf Bäume zu klettern. „Dort oben werde ich mich besser fühlen“, dachte ich und zog mich an den unteren Ästen hoch. Dean wandte mir den Rücken zu, und als er sich wieder umdrehte, stand ich gut acht Meter über ihm auf einem dicken Ast. Meine linke Hand umklammerte einen kleineren, der sich hinter mir befand. Dean fing an, mir einen irre langen Witz zu erzählen. Ich weiß noch, wie ungeduldig ich auf die Pointe wartete, ich wollte doch mit meinen Gedanken allein sein. Plötzlich hörte ich dieses laute Knacken. Der Ast, an dem ich mich festhielt, war gebrochen. „Kein Zweifel“, durchschoss es mich, „jetzt wirst du vom Baum fallen und kannst nichts dagegen tun.“ Was mir zuvor im Leben nie gelungen war, klappte in diesem Moment zum ersten Mal: Ich ergab mich dem Sturz, den ich nicht aufhalten konnte, ließ ganz bewusst alles los. Das Drama in meinem Kopf, die nagenden Zweifel. Statt Panik überkam mich eine Art euphorischer Ruhe, und ich nahm alles um mich herum extrem konzentriert und voller Neugier wahr. Die Blätter, die Äste, die Farbe der Borke. Wie friedlich, fröhlich, göttlich.
Mir schien es, als wäre ich minutenlang durch die Luft geflogen, aber das ist natürlich völlig unmöglich. Es waren nur Sekunden, ehe der Planet hochschoss und mich rammte. Anders kann ich nicht beschreiben, was geschah. Dass ich selbst auf die Erde zuraste, war mir in dem Moment nicht bewusst. Die Erde schien unsichtbar zu sein, irgendwie hinter mir. Dann, nach etwa acht Metern, schlug ich auf der härtesten, gnadenlosesten Oberfläche auf, die ich mir vorstellen kann. Höllische Schmerzen durchzuckten mich. Ich hatte sofort größte Mühe beim Atmen. Außerdem fühlte es sich an, als würden meine Beine über meinem Kopf stehen. Jedenfalls waren sie nicht dort, wo ich dachte, dass sie sein müssten. Dean hockte sich neben mich. „Wo sind meine Beine“, fragte ich ihn. Er sah mich verwirrt an. „Wovon redest du? Die sind hier.“ Ich sah, wohin er seine Hand bewegte, fühlte jedoch nichts. Ich streckte selbst eine Hand Richtung Knie aus, zu der Stelle, wo auch er hingefasst haben musste. Meine Finger bewegten sich über eine weiche, seidige Fläche. „Was ist das?“, fragte ich Dean. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, als er antwortete: „Das ist dein Bein.“
Er rief einen Notarzt. Ich blieb völlig ruhig und lauschte kurz darauf den Sirenen, die von den Wänden des Canyons als Echo zurückgeworfen wurden. Ich blickte zu den Blättern an den Ästen über mir auf und sagte zu mir: „Alles, was du über dein Leben wissen musst, passiert jetzt. Also pass gut auf.“ Ein Hubschrauber landete, Sanitäter hoben mich behutsam auf und Dean und ich wurden ins Krankenhaus geflogen. Im Helikopter holte mich dann die Angst ein.
Ich hatte mir das Rückgrat gebrochen und meine Wirbelsäule übel verletzt. Von der Hüfte abwärts war ich seit dem Aufprall komplett gelähmt. Genau das war passiert.
Das Schlimmste war für mich, dass ich keinerlei sexuelles Empfinden mehr besaß. Danach fragte mich auch der Chirurg nach der Operation. Das verneinen zu müssen, machte noch bedeutungsvoller, was ich verloren hatte. Ich nenne es Ironie des Lebens, dass ich vier Stunden vor meinem Fall den besten Orgasmus ever erlebt hatte und von einer Sekunde auf die andere nichts mehr spürte.
Ich kam zur Reha in eine Spezialklinik nach Colorado. Kein Ort der Welt lässt dich deine tragische Situation begreifen als einer, an dem jeder eine verletzte Wirbelsäule hat. Dir wird klar, in welch einem traurigen Klub du jetzt Mitglied bist. In der ersten Nacht war mir ein Krankenpfleger zugeteilt. Und dieser mir völlig fremde Mann (!) mühte sich über eine halbe Stunde, mein Rektum und damit die Darmentleerung zu stimulieren. Ich heulte ohne Pause. Und fasste im gleichen Augenblick den Entschluss, vollständig zu gesunden. Ich würde die Ausnahme von der Regel sein. Bis dahin sollte mich niemand besuchen, weder Dean noch meine Familie. Es rang mir schon genug emotionale Kraft ab, für mich allein hoffnungsvoll zu bleiben. Und bis zu meiner bravourösen Rückkehr als Ex-Gelähmte hieß es für alle: warten.
Dean und ich telefonierten jeden Tag. Ständig fragte er, wann er mich sehen könne. Sogar meinen Exfreund rief er an und bat ihn um Rat. „Hör nicht auf sie und setz dich einfach in ein Flugzeug“, sagte der. Als Dean mir davon erzählte, verbot ich es ihm. Doch schon kurz darauf passierte das, was bei mir und ihm immer passiert: Ich merke, dass er nicht nachgeben wird, und knickte letztendlich ein. „Dann komm halt“, seufzte ich. Dean wollte eine Woche bleiben – und ich wollte jeden Aspekt seiner Visite kontrollieren. An jenem Dienstagmorgen saß ich um 10 Uhr kerzengerade in meinem Bett, geduscht, mein Haar frisch gewaschen. Als Dean durch die Tür trat, sah ich nur einmal kurz in seine Augen und fing an zu weinen. Diesen Mann wollte ich ewig an meiner Seite wissen. Mehr nicht. Schon in der ersten Nacht schlief er in meinem Krankenbett. Sex hatten wir gar nicht geplant, aber als er neben mir lag, war ich so hungrig nach seinen Berührungen, seinem Duft, nach dem Gefühl seines Körpers dicht an meinem, der Vertrautheit. Und ich spürte die Hoffnung, dass mein Leben immer noch gut werden könnte. Dass wundervolle, spektakuläre Dinge auf mich warteten. Wir küssten uns. Ich war am Leben – und besaß zweifellos mehr, als ich verloren hatte.
In den nächsten Tagen beobachtete Dean die Krankenschwestern wie ein Adler und prägte sich jeden ihrer Handgriffe genau ein. Wie drehten sie meinen Körper im Bett? Wie wuschen sie mich? Wie richteten sie mein Kissen so auf, dass ich es bequemer hatte? Das alles wollte er auch für mich tun können. Und tat es. Er schmuggelte mich sogar aus dem Kranken- haus und ins Auto, um mit mir zu einem Biomarkt zu fahren. Damals hatte ich die Sache mit dem Rollstuhl noch nicht raus und absolut keine Kraft. Ich konnte kaum meinen Kopf aufrecht halten, die meiste Zeit hing er runter oder lag fast auf meinem Schoß. Doch bloß durch die Gänge mit gesunden Lebensmitteln zu fahren, machte mich richtig glücklich. Am Schluss trank ich ein riesiges Glas frisch gepressten Gemüsesaft, den Geschmack werde ich nie vergessen. Schließlich lud mich Dean wieder in den Wagen und brachte mich unbemerkt zurück in die Rehaklinik.
Meine größte Befürchtung war, dass Dean aus den falschen Gründen, aus Schuld und Verantwortungsgefühl, bei mir bleiben würde. Als ich entlassen wurde, begannen wir eine richtige Beziehung, ganz ernsthaft und ehrlich. Und immer wenn er über die Zukunft sprach, über eine mögliche Heirat oder so etwas, sagte ich ihm: „Du weißt, dass ich wahrscheinlich keine Kinder kriegen kann.“ Oder: „Eine Verletzung der Wirbelsäule kann die Lebenserwartung um zehn Jahre verkürzen.“ Und: „Ich habe ein erhöhtes Risiko, an Blasenkrebs zu erkranken, wegen der ganzen Katheter.“ Ich wollte ihn ständig daran erinnern, wie es um mich steht.
Im ersten Jahr nach dem Sturz konzentrierte ich mich völlig auf meine Gesundung. Im zweiten Jahr ging ich es ein wenig lockerer an und begann wieder zu schreiben. Meine Kreativität auszuleben machte mich nämlich viel glücklicher als die Fitnessübungen im Spezial-Gym für Menschen in meiner Situation. Ich beschloss, dass sich meine Genesung an mein ganzheitlich befriedigendes Leben anpassen müsse. Nicht umgekehrt. Ich wollte nicht den Rest meines Lebens der Hoffnung opfern, eines Tages vielleicht wieder gehen zu können. Die Beziehung zu Dean wurde immer inniger. Im Jahr 2006, vier Jahre nach meinem Unfall, heirateten wir. Und weitere vier Jahre später kam unser Sohn Aidan zur Welt. Er ist so hübsch, wundervoll, lustig, clever und süß. Aidan und die Ehe mit Dean sind die größte Bestätigung, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Kein Moment, in dem ich die zwei nicht von ganzem Herzen liebe.
Meinen Körper erlebe ich heute natürlich anders als früher. Seit ich ein Kind war, habe ich immer getanzt, und diese Selbstbeherrschung, sich nach einem Rhythmus bewegen zu können, vermisse ich sehr. Jetzt muss ich daran denken, keine Socken zu tragen, wenn ich mich auf die Toilette hieve. Sonst rutsche ich nämlich auf den Fliesen herum wie Bambi auf dem Eis. Vor einigen Monaten habe ich mir außerdem einen Teller auf die Beine gestellt, den ich aus der Mikrowelle genommen hatte. Ich steuerte meinen Rollstuhl zurück ins Schlafzimmer, mit dem Teller auf dem Schoß. Als ich ihn hoch- nahm, hatte ich eine Brandblase an der Hüfte, ohne es zu merken. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, eine Fremde im eigenen Körper zu sein.
In den ersten Wochen nach meiner Verletzung war ich sehr hart zu mir: „Warum bist du auf diesen Baum geklettert? Warum konntest du dir über dein Leben und die Beziehung zu Dean nicht klar werden, ohne dir den Rücken zu brechen?“ Heute antworte ich solchen inneren Stimmen, dass ich froh über die Gewissheit bin, die ich heute habe. Darüber, dass alles gut ist, wie es ist. Ja, ich habe einen hohen Preis dafür bezahlt. Aber den nehme ich in Kauf – und an – weil ich mein Leben heute liebe. Meinen Sohn. Meine Arbeit. Und ich werde von meinem Mann auf Händen getragen. Was gibt es da zu bereuen? Es war ein schmerzvoller Weg bis dahin, doch ich kann nicht zornig oder niedergeschlagen sein deswegen – nicht wenn ich bedenke, wo ich jetzt stehe. Auch wenn ich nicht stehen kann.
Lyena Strelkoff lebt mit ihrem Ehemann Dean, Sohn Aidan und Therapiehund Reba in Los Angeles. Seit ihrem Sturz und der daraus folgenden Querschnittslähmung tourt die ausgebildete Tänzerin mit Vorträgen zum Thema Frauenpower („The Shero’s Way”) und ihrer One-Woman-Show „Caterpillar Soup“ durch die USA. Lyena kocht und isst gern – und rockt sich am liebsten die Seele aus dem Leib.
Diese Story war zuerst unter dem Titel „Falling Slowly“ in der großartigen Radiosendung „Strangers“ von Lea Thau zu hören, produziert in Kooperation mit KCRW. Alle bisherigen Folgen und weitere Informationen finden Sie auf www.storycentral.org, auf Twitter und auf Facebook. Wir bedanken uns herzlich bei Lea für die Erlaubnis zur exklusiven Veröffentlichung auf Deutsch – und bei Lyena Strelkoff für ihr Vertrauen. Übersetzung: Siems Luckwaldt
Illustration: iStock.com/lvcandy; Fotos: Lyena Strelkoff