Aufräum-Fee Marie Kondo sortiert jetzt auf Netflix

Japanischer Shinto-Minimalismus trifft auf amerikanischen Konsum-Kapitalismus im letzten Stadium, aus dieser Prämisse hätte man eine in ihrer Kontrastschärfe herrlich brachiale Reality-TV-Sause nach bestem „Hoarders“-Vorbild zusammenschneiden können. Hier Marie Kondo, die „Wonder Woman“ der Generation Less is More, da enthemmte Kaufsucht, schlampige Haushaltsführung, Wohlstandsverwahrlosung at its best.

Was „Tidying up with Marie Kondo“ auf Netflix stattdessen wurde, ist eine (fast zu) zahme Annäherung, ja Meditation über unser Verhältnis zu unserem Zuhause, den Dingen darin und wie wir sie behandeln. Kein mahnender Zeigefinger, kein Augenrollen, kein Herumschreien, die hier teilnehmenden Paare und Familien sind eher verzaubert als verstört, wenn Kondo samt Übersetzerin Marie Iida in ihr Haus schwebt. Es zunächst kniend begrüßt und dann Falttechniken demonstriert, Schachteln und Körbe verteilt und ganz viel zuhört, wie ihre Kurzzeit-Klienten ihr sentimentales Festklammern an materiellen Gütern rechtfertigen.

Das sei okay, hört man sie oft sagen, wo in anderen Formaten gern das erste Ultimatum – „Schmeiß weg oder wir machen’s“ – folgt. In Ordnung, wenn eine Trennung gerade überfordert, dann aber bitte ordentlich verstauen. Und wenn die verwaschene Jeans dann doch in den Altkleidersack wandert, bedanke dich bei ihr für ihren Dienst. Macht dich dieses Objekt glücklich, sorgt es für einen spontanen Funken Freude, einen spark of joy, ist die häufigste Frage der zierlichen Botschafterin eines befreiten Lebens. Schwer zu sagen, bei einem simplen Paar Socken, bei einem Buch aus der Studienzeit, beim etwas kaputten Kinderspielzeug. Etliches landet bei den Kandidaten der 1. Staffel auf Wiedervorlage, weil die beglückende Wirkung unklar bleibt. Auch das ist okay.

Die Sanftheit Kondos ist ungewohnt im Reality-TV, das sonst so auf Krawall gebürstet wird, ihre vom Naturgeister-Glauben des Shintoismus inspirierte feinstoffliche Beziehung zur Welt und unseren Besitztümern mal erfrischend, dann naiv und auch befremdlich für uns. Was „Tidying up with Marie Kondo“ zu einem so wichtigen Neuzugang unter den Aufräum-Sendungen macht und dank des ansteckenden Charmes der Botschafterin eines beruhigenden Heims voller Glücksdinge zum Sehvergnügen.

Nur eines wünschte man sich dann doch zuweilen weniger märchenhaft verklärt: Die bei manchem Paar spürbaren, sich im Sortieren und Wegwerfen subtil entladenden Konflikte, denen Formate wie „Consumed “ mit Jill Pollack beherzter auf den Grund gehen. Marie Kondo dagegen verlässt sich auf die heilende Kraft aufrecht gelagerter Socken und perfekt zusammengelegter Spannbetttücher. Und wer weiß, vielleicht ist diese zarte Intervention wider Erwarten wirkungsvoller als mache Gesprächstherapie samt Psychopharmaka. Unterbewusst, sich langsam entfaltend, magisch. Wie Marie. Die rekrutiert an ihrem neuen Lebensmittelpunkt Kalifornien munter eine ganze Declutter-Armee von KonMari-Beraterinnen und irritiert mit ihrer neuen Streaming-Präsenz zugleich etliche TV-Kritikerinnen.

Darf man eine Frau von 34 Jahren wegen ihres fröhlichen Wesens und geringer Körpergröße in Formulierungen verniedlichen? Bewegen sich Märchen-Assoziationen, wie sie auch mir sofort kamen – Tinkerbell und andere prinzessinnenhafte (Disney-)Wesen – tendenziell auf die Grenze zur Frauenfeindlichkeit hin, dieses Bild der Kindfrau aus Japan, die so putzig Söckchen faltet und strahlt, wenn ihre amerikanischen Klienten doch mal was wegwerfen? Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Ihre Autorität jedenfalls und ihr erfrischender spiritueller Wind, den Marie Kondo in das leidige Thema „Wähle gut, was dich durchs Leben begleitet“ bringt, bleibt unbestritten.

Und wer ihr auf Instagram folgt, der kriegt zudem den Eindruck, dass Kondo sich sehr bewusst und clever als feenhafte Personenmarke inszeniert. Nicht bloß bei überfüllten Kleiderschränken sondern auch bei ihrem Image hat sie alles unter Kontrolle.

Fotos: konmari.co/Instagram