Zurück in die Zukunft: Was wir von den Amish lernen können

Zauselige Bärte, klapprige Kutschen, keine Handys und Mode wie aus Urgroßmutters Kleiderschrank. Nein, die Amish brauchten sich um den kopfschüttelnden Spott ach so fortschrittlicher US-Großstädter noch nie zu sorgen. Und doch erfreut sich das kauzig archaische Lebensmodell dieser von Südwestdeutschen oder Deutschschweizern abstammenden strenggläubigen Gruppierung touristisch wie medial einer seit Jahren wachsenden Beliebtheit. Vor allem bei von E-Mail-Terror, Konsum-Wahnsinn und politischem Stillstand frustrierten Amerikanern. Und zwar jene, die über das nötige Kleingeld verfügen, um von China-Fleece für 99 Cent auf Patchworkdecken für einige Hundert Dollar und von Nutella in der Großpackung zu Rhabarberkompott im Glas zu wechseln.

Dank Reality-Formaten wie „Breaking Amish“, „Return to Amish“ oder „Amish Mafia“ hat auch die TV-Popkultur ihre nostalgischen Outfits und Rezepte für sich entdeckt. Ihre Religion sorgt zudem für äußerst kinderreiche Familien (sechs Sprösslinge sind der Durchschnitt), die aus Platzmangel in Landesteile vorstoßen, in denen sie seit den Anfängen um 1750 herum bisher keine Heimat gefunden hatten, etwa in den Bundesstaat New York. Die Zahl der sehr traditionell lebenden Old Order Amish, die überwiegend Pennsylvania Dutch sprechen, liegt bei etwa 290.000. Die meisten von ihnen leben in Ohio, Pennsylvania und Indiana.
So rosig, wie es Bildbände und Kochbücher suggerieren, geht es freilich nicht zu in Amish-Land. Doch auch die dramatischen TV-Szenen, in denen Amish-Jugendliche nach Manhattan ausreißen, sich schminken wie Liebesarbeiterinnen bei Rotlicht und nach schamhafter Rückkehr als „Shunned“ (Verstoßene) ein Dasein fern der Gemeinschaft fristen müssen, sind überzogen.

Für ein realistischeres Bild von den Amish hat Enough zwei ausgewiesene Expertinnen befragt: Dr. Susan L. Trollinger von der University of Dayton in Ohio und Karen Johnson-Weiner, die an der State University of New York in Potsdam, NY, lehrt. An welche Werte die Amish in ihren Augen unsere moderne Gesellschaft erinnern können, haben wir hier zusammengefasst. Wichtigste Erkenntnis: Nachdenkliches Zögern übertrumpft ein blindes Höher-Schneller-Weiter.

Die Amish über Erziehung: „Guter Charakter ist wie gute Suppe – meist hausgemacht.“

Karen Johnson-Weiner: „An Halloween hat sich ein anderes Teenagermädchen von mir ein paar Kleidungsstücke geliehen; sie wollte sich als ‚englische Frau‘ verkleiden und ihre Großmutter damit überraschen. Die paar Teile musste ich in einer Papiertüte für sie in der Nähe des Schulgebäudes deponieren. In meinen Gesprächen mit Amish-Müttern reden sie oft davon, wie sie ihre Kinder vor unserer reizüberfluteten Welt schützen können. Meine Kinder sind mit ihren Kindern aufgewachsen, weil wir bei einer Siedlung wohnten, und hatten so Pausen von Videospielen und anderer Zerstreuungstechnologie. Ich genieße es, mit diesen Freundinnen beim Kaffee zu sitzen. Wenn ein Handy klingelt, ist es meines.“

Die Amish über Emanzipation: „Die Mutter stellt ihre Kuchen auf die Fensterbank, damit sie abkühlen. Die Tochter, damit sie auftauen.“

Susan L. Trollinger: „Manche der eher auf Touristen zielenden Städte wie Walnut Creek in Holmes County, Ohio, sind fast viktorianisch herausgeputzt. Die Läden sind überschaubar klein und die Restaurants zelebrieren Slow Food: Es gibt köstliche Pies mit ihren zeitaufwendigen Krusten und hausgemachte Mashed Potatoes, für die junge Amish-Mädchen stundenlang Kartoffeln schälen. Anderswo in Amerika werden so langwierige Gerichte gar nicht mehr gekocht. Den Besuchern scheint auch die Klarheit der Geschlechterrollen zu gefallen. Es ist ein wenig wie in den Fifties und Sixties im übrigen Land, wo perfekte Hausfrauen von Plakaten und aus Magazinen lächelten. Die feministischen Ideale der 68er-Bewegung sind an den Amish weitgehend vorbeigegangen.“

Die Amish über Religion: „Bete für eine gute Ernte, aber höre nicht auf zu pflügen.“

Trollinger: „Der omnipräsenten Kirche so viel Einfluss auf alle Aspekte des eigenen Lebens zu überschreiben, ist nicht jedermanns Sache. Es gibt einen hohen moralischen Erwartungsdruck, der ab der Erwachsenentaufe mit 18 noch einmal schwerer wiegt. Könnte ich selbst so leben? Nein, denn trotz aller beschaulichen Nostalgie führen die Amish ein sehr hartes Leben. Ein Freund von mir hat 10 Jahre versucht, ein Amish-Leben zu führen, sich mit dem eisernen Festhalten an Traditionen zu arrangieren – und schließlich aufgegeben.“

J.-Weiner: „Viele, die konvertieren, suchen bei den Amish nach Antworten, die sie in meinen Augen dort nicht finden werden. Deren Ordnung ist im Wortsinn heilig, die Bibel und ihre Gesetze bestimmen das ganze Leben. Welche Socken sie tragen, auf welchem Platz wer sitzt, wie das Haus beheizt wird. Alles! Um das Paradies im nächsten Leben geht es weniger, sondern darum, sich zu disziplinieren, von der Stärke der Gemeinschaft zu profitieren und so ein Leben zu führen, das einer finalen Erlösung würdig ist. Diesen Weg allein zu gehen kommt für die Amish nicht infrage. Wer auf Sinnsuche ist, hat es definitiv leichter, einer Kirche beizutreten, die konkrete Versprechungen macht. Nach über 30 Jahren Forschung über die und mit den Amish habe ich persönlich kein Verlangen danach, so zu leben wie sie. Was soll ich sagen: Ich mag Fernsehen.“

Die Amish über ihre Gemeinschaft: „Wenige Bürden sind wirklich schwer, wenn andere sie mittragen.“

Trollinger: „Was mich beeindruckt, ist, wie bewusst die Amish sich ihrer Beziehung zur Technologie sind. Die Frage, wann ein neues I-Phone von Apple erscheint, stellt sich ihnen nicht. Gott sei Dank. Sie beobachten gleichwohl neue Entwicklungen und stimmen unter Anleitung von Pastoren und Bischöfen demokratisch darüber ab, ob eine Innovation ihr Zusammenleben beeinträchtigen könnte: Strom, gekühlte Milch, Auto oder Telefon, bei dem sie grassierenden Klatsch und Tratsch befürchten. Manchmal denke ich, hätten wir den enormen Einfluss der Smartphones auf unseren Alltag geahnt, vielleicht hätten wir auch erst diskutieren statt willig dem Marketinghype folgen sollen.“

J.-Weiner: „Ich kann mich noch gut an meinen ersten Besuch in Norfolk, New York, erinnern, wo die Amish einen Schweizer Hintergrund haben. Ich machte mir lange Gedanken über mein Outfit, schließlich sind das sehr religiöse Leute. Die erste Person die ich traf, eine Lehrerin, lud mich zu sich ein – und was ich dort erlebte, widersprach komplett meiner Erwartung. Statt bierernst und humorlos um den Tisch zu hocken, wurden (ein wenig kindliche) Witze erzählt und es wurde pausenlos gelacht. In meinen Amish-Freunden habe ich Menschen gefunden, die mir sehr viel bedeuten.“

Die Amish über Komfort: „Verbrauche es, trage es auf und komme damit aus. oder verzichte drauf.“

Trollinger: „In Berlin, Ohio, findet man Läden voller Kochutensilien von früher, Werkzeuge für Zimmerleute und vieles mehr. Alte Technologien, die uns das Gefühl vermitteln, sie beherrschen zu können, wie der Pferdepflug im Vergleich zum gigantischen Hightech-Mähdrescher. Fortschritt, das ist uns heute viel-leicht bewusster als früher, ist ein zweischneidiges Schwert. Was die Amish beispielsweise nicht verstehen können, ist, dass wir um die negative Wirkung von zu viel Fernsehkonsum wissen und den Kasten dennoch nicht aus dem Fenster werfen. Da sind die mehr Konsequenz gewöhnt.“

J.-Weiner: „Die Amish erinnern uns daran, dass unser komplexes Leben, in dem Arbeit, Kindererziehung, Familie und Freizeit miteinander vernetzt und kaum mehr trennbar sind, Risiken birgt. Wenn wir nachts E-Mails beantworten statt ein Buch zu lesen oder einfach zu schlafen, wie wir es vor 20 Jahren noch getan hätten. Und so bleiben die Amish skeptisch beim Telefon, denn es führt in ihren Augen zu weniger Gesprächen von Angesicht zu Angesicht. Beim Auto ist es ähnlich: Wer weiß, wo man darin landet? Also lehnen sie beides für sich ab. Könnte ich Bequemlichkeiten wie heißes Wasser oder eine Mikrowelle entbehren? Eher nicht, doch sich solche Fragen zu stellen, halte ich für extrem gesund.“

Die Amish über die Zukunft: „Mancher sieht ein hoffnungsloses Ende voraus, wir glauben an endlose Hoffnung.“

Trollinger: „Es ist eine gewisse Ironie, dass sich gerade höhere Einkommensklassen der ‚englischen‘ Bevölkerung nach selbstangebautem Biogemüse und Hausmannskost sehnen – jedoch immer weniger Amish von der Landwirtschaft leben können. Immerhin läuft der Verkauf von Obst und Gemüse an Öko-Restaurants und nachhaltige Supermärkte heute besser als noch vor einigen Jahren. Wo werden die Amish in 50 Jahren sein? Mein Kollege Donald Kraybill vermutet ja, dass es in den zu einer Art industrieller Revolution kommt. Schon jetzt müssen viele Amish – außerhalb ihrer Siedlung – in Fabriken arbeiten. Sie stellen dort Möbel her, Fertighäuser und Wohnwagen. Mit CAD-Programmen, Computern und anderen modernen Produktionshilfen. Nach 17 Uhr kehren sie dann zu ihren Familien zurück, in ihren Pferdekutschen.“

J.-Weiner: „Die sehr konservativen Amish-Gruppierungen erlauben keine Lohnarbeit außerhalb ihrer Gemeinschaft und schätzen den Beitrag, den Frauen durch Kindererziehung, das Nähen von Kleidung, Kochen und Einkochen leisten sehr. Dort, wo Männer zu entfernten Jobs pilgern und so mehr Geld nach Hause bringen, geben sie oft stärker den Ton an. Gleichzeitig können sie ihre Söhne kaum mehr in die Geheimnisse der Landwirtschaft oder verschiedenste Handwerke einweihen, sie unterstützen ihre Frauen nicht bei der Erziehung und sprechen bloß noch am Wochenende das mittägliche Tischgebet. In den Fabriken wiederum arbeiten sie mit einer Schulausbildung selten oberhalb der achten Klasse neben Kollegen, die mindestens die Highschool besuchen mussten, um den gleichen Job zu bekommen. All das birgt Konfliktpotenzial. Jede Neuerung, jede Entscheidung – das, finde ich, ist die größte Lehre der Amish – hat weitreichende Konsequenzen. Denn natürlich steht ihre Kultur vor großen Umbrüchen. Ihre Dörfer wachsen bis an ihre Grenzen, aus Platzmangel dringen die Amish längst in Regionen wie den Staat New York oder Maine vor, wo sie historisch nie lebten. Jetzt stehen jetzt über 20 Siedlungen. Es gibt auch Amish auf Facebook, Amish in großen Konzernen. Dennoch: Die Amish werden uns noch eine ganze Weile erhalten bleiben. Und ich werde weiter Neues über sie lernen. Wie neulich, als ich erfuhr, dass Brautjungfern am Tag nach der Hochzeit der Braut beim Geschirrspülen helfen müssen. Gar keine schlechte Idee, finde ich.“

Susan Trollinger
Susan Trollinger
Die Rethorik-Professorin erforscht an der University of Dayton in Ohio u. a. wie die Amish sich und ihre Lebensweise vermarkten. Ihre Erkenntnisse sind unter dem Titel „Selling the Amish: The Tourism of Nostalgia“ als Buch erscheinen.

Karin Johnson-Weiner
Karen Johnson-Weiner
Die Anthropologin hat sich in zahlreichen Artikeln und Büchern (zuletzt „The Amish“ m. Donald B. Kraybill) mit allen Grundpfeilern der Amish-Kultur beschäftigt. Sie lehrt derzeit an der State University of New York in Potsdam, NY.

Fotos: iStock.com/MorelSO; privat

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Kategorien Glaube

Siems Luckwaldt ist seit über 20 Jahren als Journalist und Redakteur tätig. Seine Themen: Interviews, Mode, Lifestyle, Uhren, Modernes Leben. Weitere Angebote: Corporate Publishing, Social Media Storytelling, Podcasts, Coaching