The Moment mit Christa Ritter, Filmemacherin/Autorin

In unserer Interview-Serie „The Moment“ stellen wir regelmäßig Menschen vor, die Veränderungen in ihrem Leben wollten, sich ihnen gezwungenermaßen stellen mussten oder sich dafür einsetzen, selbst „change“ anzustoßen. Einige faszinierende Persönlichkeiten aus ganz unterschiedlichen Bereichen stellen wir in der ersten Ausgabe von Enough ausführlich oder in aller Kürze vor. Von bekannten Gesichtern zu stillen Helden mit außerordentlicher Ehrlichkeit und großem Mut.

Doch auch zwischendurch wollen wir hier auf unserer Website besonderen Persönlichkeiten ein Forum bieten, uns von Zäsuren in ihrem Leben zu erzählen. Schließlich lernen Menschen am liebsten von anderen Menschen. Lassen Sie sich inspirieren, einfach besser (zu) leben.

Wer den Namen Christa Ritter googelt, der stößt rasch auf diesen Satz: „Christa Ritter, geboren 1942 in Berlin, ist eine deutsche Filmemacherin und Journalistin. Sie gehört seit 1978 der Selbsterfahrungsgruppe um Rainer Langhans an, die als „Der Harem“ geläufig ist.“ Wer ihren Wikipedia-Eintrag bis zum Schluss liest, ist unweigerlich fasziniert von einem dieser Leben, die wir Journalisten gern als „bewegt“ beschreiben. Was im Falle von Christa Ritter allerdings leidlich ausreicht!

Sie hat die Medien- und Werberszene kennengelernt, die 68er in in sämtlichen Facetten aufgesogen, reiste auf Sinnsuche durch Afrika und Asien (davon handelt ihr gerade erschienenes Buch „Styx: Die Reise beginnt“, das wir hier wärmstens empfehlen wollen!) und schrieb als Autorin für diverse Magazine. Christa Ritter drehte Dokumentarfilme und ist bis heute immer wieder wegen und mit Rainer Langhans im Fernsehen präsent. Seit 2012 ist sie in der Piratenpartei aktiv, die insbesondere von ihrer Expertise als Filmemacherin profitiert. Genug „Change“ für zig Enough-Interviews, darum geben wir jetzt das Wort an: Christa Ritter.

Dein beruflicher & privater Hintergrund in einer Minute.
Da ist mein Vater, der eine Werbeagentur leitete und gern Architekt gewesen wäre. Und dann meine Mutter, eine Hausfrau, die Schauspielerin werden wollte. Alles sehr bürgerlich und eng. Mich bewölkte ein großes Nein zu dieser Welt. Sie hatten mich, das Mädchen, entsprechend blockiert und gleichzeitig trieb mich ein Größenwahn an. Ich wollte ein großes Leben, kein kleinkariertes. Wie könnte das gehen? Ich wollte draußen losschlagen und hatte doch Angst vor Nähe. Als junge Frau war ich frech, dahinter ängstlich und leer.

Was war deinen Eltern wichtig für dich?
Bildung, Sprachen, Reisen, Glücklichsein – nach ihren Maßstäben. Es „zu etwas zu bringen“. Erfolg auch.

Was war dir früher wichtig?
Durch 1968 fühlte ich mich wie neugeboren. Endlich öffnete sich die Tür meines Käfigs. Kreativität, Ungebundensein, Fantasie, Tanzen, ferne Länder. Ich begann, mein Leben (neu) zu erfinden. Viele Freunde, ein offenes Haus, Partys in London, wo ich häufig arbeitete. Feiern in Paris und New York. Doch bald zogen dunkle Wolken auf: Mein bester Freund starb, ich begann zu meditieren, Drogenerfahrungen, noch mehr Reisen. Ich dachte mir ständig: Bloß weg.

Wie siehst du das heute?
Die Erdung fehlte. Letztlich der Sinn.

Wie definierst du heute Erfolg?
Wenn ich mir innen näher komme, um dann erst dadurch andere zu berühren. Das gelingt mir inzwischen in seltenen Momenten. Sehr schwer!

Wie hast du früher darüber gedacht?
Da war ich völlig unbewusst. Ich probierte zwar viel aus, aber Beruf wie Beziehungen blieben oberflächlich. Ich hatte und habe immer noch überwiegend Angst vor meiner inneren Welt.

Was war der bisher größte Wendepunkt in deinem Leben?
Als mit 35 dieses Werbefuzzi-Leben des schönen Scheins, der hohen Geschwindigkeit immer schaler wurde und ich nur noch Selbstmord als Lösung sah. Ich grübelte: Wie könnte ich existentieller leben? So, dass mir Menschen wirklich etwas bedeuten, dass ich mich fühlen lerne? Ich dachte ans Filmemachen und gab mein Leben und meine Freunde in Düsseldorf auf.

In München und als Regie-Assistentin beim deutschen Film ahnte ich bald: auch keine tolle Idee. Wie kann ich Filmgeschichten erzählen, wenn ich mich und die Menschen so wenig kenne? Mein guter Engel schickte mir den Ex-Kommunarden Rainer Langhans, der mich in den Drehwochen eines Road Movies völlig auseinandernahm. Die Krone meiner Eitelkeiten, auch meiner ungebrochenen Selbstzufriedenheit, zerbrach.

Durch ihn angestoßen, entschied ich mich für ein Leben der inneren Suche und zog in die Nähe von diesem anspruchsvollen Querdenker und seinen inzwischen vier Frauen. Dieser Bruch hat mein Leben um 180 Grad verändert.

Styx von Christa Ritter

Wann genau war dieser Moment, an dem du wusstest, es muss etwas anders werden – oder es wird sich etwas verändern? Und wie hast du ihn erlebt?
Mein dramatischstes Bild dafür: Als ich mit einer Freundin, noch ausklingend auf LSD, von Amsterdam nach Düsseldorf unterwegs war, ich fuhr, und ein großer schwarzer Vogel in die Frontscheibe stürzte. Seine zerfetzten Feder- und Körperteile hingen in unserem Gesicht, in den Haaren, am Spiegel, überall im Auto. Ein Moment des Horrors … und Aufwachens! Daraufhin brach ich mein Leben als Agentin für Fotografen in Düsseldorf ab.

Der noch entscheidendere Moment meines Bruchs passierte allerdings erst später mit Langhans. Zum Ende des gemeinsamen Drehs fragte ich ihn, ob ich mit ihm in München befreundet bleiben könnte. Er warnte mich: „Das solltest du dir gut überlegen!“ Irgendwie wusste ich da: Jetzt überschreite ich eine Grenze, gehe ins Ungewisse. Endlich! Mein Herz klopfte heftig, als ich „Ja“ sagte. Zu mir selbst.

Wie hast du das alles durchgestanden?
Nach der Vogelgeschichte löste ich meines trostloses Leben in Düsseldorf auf. Mit einem Koffer fuhr ich nach München zum Dreh des ersten Films von Margarethe von Trotta. Ich weinte vom Rhein bis an die Isar. Zu dieser Zeit habe ich viel getrunken und geraucht, auch gekifft. Ich stand im Grunde völlig neben mir. Um mich Freunde herum, die ähnlich schräg drauf waren.

Dass ich durch Langhans eine Möglichkeit der radikalen Veränderung fand, kam mir anfangs wie eine Gnade vor. Ich würde mich endlich ernst nehmen, mich lieben lernen. So lebte ich von einem Tag zum anderen ohne Drogen, vegetarisch, fastete, fuhr mit den neuen Freunden oft in die Natur. Ich dachte viel über den Sinn des Lebens nach, führte lange Gespräche darüber.

Worauf vertraust du heute?
Darauf, dass mein schwieriges Leben besser ist als alles, was ich sonst kenne. Gleichzeitig zweifle ich, leider überwiegend, noch immer auch an diesem Weg. An mir, an Langhans und meinen Gefährtinnen, diesem „Harem“, wie ihn Außenstehende irgendwann nannten. Ich zweifle an der Welt. Meine Dankbarkeit für diesen unendlich langen Weg der Suche nach mir ist also nicht stabil. Mühsam, das alles. Aber: Hätte ich es doch gern bequemer? Nein!

Wie sah früher dein Alltag aus?
Hektisches Arbeiten, immer mit Druck, Papis Leistungsideen und Angst vor Menschen im Kopf. All das blieb lange an mir kleben. Daher war der Tag früher weniger mein Ding als die Nacht: Betäubung in Clubs, Vermeidung von Nähe, Filme schauen oder weit weg reisen. Nach Asien, Afrika, in die USA.

Wie läuft heute ein typischer Tag in deinem Leben ab?
Gut schlafen, Fitness-Übungen, Zeitung und Internet lesen, dabei kleines Frühstück. Einkaufen, Tennis oder Schwimmen, wieder Internet und Bloggen. Mit Brigitte [Streubel] und Langhans einen Walk in the Park, vielleicht ein Treffen mit dem Harem. Gespräche über uns, Probleme, Spirituelles, Projekte. Abends meist ausgesuchtes TV und lesen. Erst nach Mitternacht ins Bett. Allein.

Deine drei besten Eigenschaften?
Kontaktfreude. Türen eintreten. Dirigentin sein.

Deine drei größten Herausforderungen mit dir?
In die Tiefe gehen fällt mir schwer. Gelegentliche Verachtung für mich. Und mangelnde Demut, ich muss Reste von „Großkotz-Allüren“ abbauen.

Was bringt dir Freude?
Sport und Bewegung, Reisen, Tagträumen, Philosophieren oder einem Philosophen zuhören, Bilderwelten.

Was macht dir Sorgen?
Mein ständiges Geldproblem und meine, wie ich es empfinde, mangelnde Tiefe.

Drei Lieblingsbücher.
Shamtaram“ von Gregory David Roberts: Das wundervoll abenteuerliche, reiche Werde-der-du-bist-Buch eines Getriebenen durch Indien.

Walden“ von Henry David Thoreau: Über die Lektüre geriet ich ins Gespräch mit mir selbst.

Wanderer mit dem Wind“ von Alexandra David-Néel: Diese Frau, die wach und zum tibetanischen Lama wird, ist eines meiner Vorbilder.

Drei Lieblingsfilme.
Kinder des Olymp“ von MArcel Carné.

Die Geliebte des französischen Leutnants“ mit Meryl Streep und Jeremy Irons.

Céline und Julie fahren Boot“ von Jacques Rivette.

Eine Serie zum Am-Wochenende-Durchgucken.
The Good Wife“ mit Julianna Margulies.

Enough-Tipp: Der Dokumentarfilm „Good Luck Finding Yourself“ fasst die gleiche schicksalshafte Reise von Langhans mit dem „Harem“ nach Indien in bewegte Bilder, die auch Christa Ritters Buch „Styx“ beschreibt.

Drei Menschen, die in deinen Augen Vorbilder sind.
Rainer Langhans und meine Haremsfreundinnen. Vorbildliches sehe ich auch immer wieder an anderen Menschen.

Wenn du ein Problem der Welt lösen könntest, welches würdest du wählen?
Weniger Industrialisierung, mehr Internet. Bescheidener leben angesichts der Klimakatastrophe. Tiere und Pflanzen retten, in dem wir weniger und vegetarisch essen. Rückzug und gelassenes Schauen statt Depression, Konsumwahn und Geldgier.

Das größte Kompliment, das du je bekommen hast?
„Ich mag dein Lächeln.“

Wie lautet dein persönliches Mantra?
Ich habe keins. Ich wünschte, ich hätte dies: Alles ist gut, alles ist Liebe. Bin aber noch kein Lama, sondern meditiere viel zu selten. Obwohl: Ist auch das Internet eine Meditation? Komme ich mir damit näher?

Foto: Christine Koch